Wo Geschichten auf Papier lebendig wurden

Wo Geschichten auf Papier lebendig wurden

Im 19. Jahrhundert war Neuruppin weit mehr als ein brandenburgisches Städtchen – es war ein kreatives Zentrum voller Farben, Geschichten und Fantasie. Die berühmten Neuruppiner Bilderbogen machten die Stadt in ganz Europa bekannt. Aus den Druckpressen der traditionsreichen Druckerei Gustav Kühn kamen farbenfrohe Blätter, die in keinem Haushalt fehlen durften: humorvolle Alltagsszenen, religiöse Motive, politische Ereignisse, Ausschneidepuppen und Hampelmänner – liebevoll gestaltet und von Hand koloriert.

Dank der neuen Technik des Steindrucks konnten erstmals hohe Auflagen in gleichbleibender Qualität produziert werden. So fanden sich bald in fast jeder Kinderstube fantasievolle Papiersoldaten, Ziehfiguren oder selbst gebasteltes Spielzeug – direkt aus Neuruppin.

Mehr als 20.000 verschiedene Motive entstanden – millionenfach gedruckt, detailverliebt gestaltet und bis heute ein kulturelles Erbe mit künstlerischem und gesellschaftlichem Wert. Viele Darstellungen sind heute seltene Einzelstücke – sie erzählen vom Leben, Glauben und Humor der Menschen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Manche Verse und Sprüche wirken erstaunlich aktuell – andere charmant nostalgisch.

Heute lebt diese faszinierende Geschichte weiter – im Museum Neuruppin, das mit über 12.000 Originalblättern die größte Sammlung dieser populären Druckgrafik in Deutschland besitzt. Und vor allem: am historischen Ort selbst – in der Bilderbogenpassage.

Unser historisches Erbe – Die Bilderbogenpassage

Was heute ein modernes Einkaufszentrum im Herzen Neuruppins ist, war einst ein pulsierender Ort des Handwerks, der Kreativität und der Innovation. Die Bilderbogenpassage steht auf historischem Grund: Hier befand sich die renommierte Druckerei Gustav Kühn – die Wiege der Neuruppiner Bilderbogen.

Die Erfolgsgeschichte begann bereits 1779 mit der Gründung einer Buchbinderei durch Johann Bernhard Kühn. Nach dem verheerenden Stadtbrand 1787 wurde das Unternehmen an der Friedrich-Wilhelm-Straße 29 neu aufgebaut – und legte den Grundstein für eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Bald wurden hier thematisch gestaltete, handkolorierte Einblattdrucke hergestellt, die in ganz Deutschland bekannt wurden.

Den entscheidenden Durchbruch erzielte Gustav Kühn (1794–1868), der 1819 in die Fußstapfen seines Vaters trat. Mit der Einführung der Lithographenpresse im Jahr 1825 revolutionierte er die Produktion. In Spitzenzeiten, etwa während des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71, erreichten seine Bilderbogen eine sensationelle Auflage von drei Millionen Stück pro Jahr. Der Vermerk „Neu-Ruppin, zu haben bei Gustav Kühn“ wurde zum Gütesiegel – und Neuruppin zum Synonym für farbenfrohe Volkskunst.

Mitte des 19. Jahrhunderts zog die Druckerei in die Ludwigstraße – die heutige August-Bebel-Straße 46–49 – und wuchs rasant: Bis zu 400 Menschen arbeiteten an 11 Schnellpressen und einer Rotationspresse. Neben den beliebten Bilderbogen wurde hier auch die lokale Presse geprägt – unter anderem mit dem „Gemeinnützigen Anzeiger“, später der „Märkischen Zeitung“. Erst in den 1930er Jahren endete die Bilderbogenproduktion. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Druckereiausstattung von den sowjetischen Besatzungstruppen demontiert.

Vom Industriedenkmal zum lebendigen Treffpunkt

Was bleibt, ist ein Ort mit Geschichte – und Zukunft. Die einstige Druckerei gehörte zu den wichtigsten wirtschaftlichen und kulturellen Standorten der Region. Heute zeigt sich das historische Areal in neuem Gewand: als größtes innerstädtisches Einkaufszentrum Neuruppins, das seine Vergangenheit nicht versteckt, sondern stolz zur Schau stellt.

Die aufwendige Sanierung der ehemaligen Druckereigebäude – in enger Zusammenarbeit mit Denkmalschutz, Architekten und Stadtverwaltung – hat etwas Besonderes geschaffen: einen Raum, in dem Geschichte spürbar bleibt und gleichzeitig Platz für Begegnung, Genuss und Alltag ist.

Die Bilderbogenpassage verbindet Historie mit Moderne, Kultur mit Lebensqualität, Stadtgeschichte mit Stadtleben. Wo einst Papier mit Farbe und Fantasie zum Leben erweckt wurde, laden heute Cafés, Geschäfte und Dienstleister zum Verweilen ein. Seit 2011 trägt die Passage deshalb zu Recht den Titel „Unser Denkmal des Monats“ – verliehen von der Arbeitsgemeinschaft “Städte mit historischen Stadtkernen” des Landes  Brandenburg.